Sind Sie ehrlich, der Clickbait hat funktioniert. Wir alle sehnen uns nach Einfachheit und vermutlich wären wir in Sachen Barrierefreiheit schon deutlich weiter, wenn sie so einfach wäre. Aber ich möchte, dass Sie alle Tricks kennen, deshalb schreibe ich diesen Blog. Das Problem an den nachfolgenden Tipps? Sie sind alle zu einfach um wahr zu sein und deshalb Unfug. Das ist der Grund, weshalb Fachleute Ihnen davon bisher nichts erzählt haben.
Lesen lohnt sich trotzdem, denn sie zeigen gut, dass ein faktisch erfülltes WCAG-Kriterium oder ein guter Punktwert auf einer Skala eben keine barrierefreie Website definieren und sich automatisierte Testtools deshalb mitunter schwer tun. Nur weil es erfüllt ist heißt das nicht, dass es gut ist.
Die Verwendung vieler Abkürzungen erhöht die Lesbarkeit
Die Lesbarkeit Ihrer Texte ist wichtig. Nicht umsonst gibt es Konzepte wie Leichte und Einfache Sprache. Ein weit verbreiteter Maßstab für die Lesbarkeit von Texten ist der sogenannte Flesch Reading Ease oder auch Lesbarkeitsindex. Er berechnet über die Länge von Wörtern und Sätzen, wie gut ein Text lesbar ist. Dabei geht die Skala von 0 (für Akademiker) bis 100 (für etwa Elfjährige). Die berechnete Punktzahl soll so also einen groben Eindruck der Lesbarkeit von Texten geben. Je länger Wörter und Sätze sind, desto niedriger die Punktzahl.
Einfach lesbare Texte sind wichtig für die Leser, aber auch für Suchmaschinen. Sich an dem berechneten Wert zu orientieren ist also nicht verkehrt. Aber: dieser Score lässt sich austricksen, denn er liebt kurze Wörter und Abkürzungen. Je weniger Silben, desto besser.
Beispiel:
- „Der Kurs beginnt 8:00, dauert ca. 2 Std., inkl. Pause, z.T. im Freien.“ (100 Punkte!)
- „Der Kurs beginnt um 8:00 Uhr, dauert etwa zwei Stunden, einschließlich Pause, teilweise im Freien.“ (66 Punkte?!)
Welchen der zwei Sätze können Sie tatsächlich besser lesen? Sicherlich den Zweiten. Versteifen Sie sich also bitte nicht zu sehr auf berechnete Werte. Ich habe noch keinen Punktwert über 60 geschafft. Das liegt auch daran, dass ihm das Wort „Barrierefreiheit“ einfach zu lang ist.
- Für alle verständlich – Was ist der Unterschied zwischen Leichter und Einfacher Sprache?
- Regeln für Leichte Sprache – In Leichter Sprache
Elemente sollten durch eine auffallende Schrift unterschieden werden
Das Kriterium 1.4.1 der WCAG besagt:
Farbe wird nicht als einziges visuelles Mittel benutzt, um Informationen zu vermitteln, eine Handlung zu kennzeichnen, eine Reaktion zu veranlassen oder ein visuelles Element zu unterscheiden.
Das ergibt durchaus Sinn, denn es gibt viele verschiedene Farbfehlsichtigkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Person gibt, die genau Ihre gewählte Farbe nicht oder nur schlecht vom restlichen Text unterscheiden kann, ist hoch. Deshalb wird verlangt, eine zusätzliche Kennzeichnung zu schaffen. Das kann ein Icon sein, eine Unterstreichung oder ein unterschiedlicher Schriftschnitt, also fetter Text.
Oder, Sie können die Schriftart ändern. Technisch gesehen würden Sie damit das Kriterium erfüllen. Sogar, wenn Sie den Text auf Wingdings ändern. Erinnern Sie sich noch? Ja, diese lustige Windows-Symbolschrift.
Auch damit ist das Kriterium erfüllt. Nutzen? Absolut keiner. Ein automatisches Prüftool könnte jedoch zu dem Schluss kommen, dass alle Anforderungen von Kriterium 1.4.1 erfüllt sind. Behalten Sie also bitte nicht nur die WCAG, sondern vor Allem Ihre Nutzer im Kopf. Dann kann diese Schrift wieder in der Mottenkiste verschwinden, aus der ich sie gerade holen musste.
- Barrierefreie Schriftarten – damit Schrift nicht zum Hindernis wird
- Barrierefreie Farben gibt es nicht
- Doppelt gemoppelt – das Zwei-Sinne-Prinzip
ARIA-Attribute verschlechtern die Barrierefreiheit Ihrer Seite
Seit 2019 überprüft WebAim jedes Jahr 1 Million der größten Websites weltweit mithilfe ihres Testtools WAVE auf ihre Barrierefreiheit. Die spannendste Erkenntnis? Auf Seiten, die ARIA-Attribute nutzen, wurden mehr Fehler gefunden als auf solchen, die keine nutzen. ARIA-Attribute zerstören also die Barrierefreiheit?
Stopp, ein Schritt zurück. ARIA-Attribute sind Attribute um Screenreadern und anderen Assistenzsystemen zusätzliche Informationen zu geben. Das ist gut. Wie kann darunter die Barrierefreiheit leiden?
Das liegt an einem mathematischen Dilemma: Korrelation vs. Kausalität.
Korrelation bedeutet, dass zwei Dinge miteinander in Verbindung stehen. Also beispielsweise: In den letzten Jahren habe ich weniger Sport getrieben und bin immer schwerer geworden.
Kausalität bedeutet dagegen, dass das eine die Ursache des anderen ist. Aber habe ich jetzt zugenommen weil ich weniger Sport getrieben habe, oder fiel mir der Sport aufgrund meines Gewichtes nur schwerer? Oder bin ich krank geworden, was die Ursache für beides war? Das ist völlig unklar.
Und so geht es uns mit den ARIA-Attributen. Ja, es gibt eine Korrelation. Aber die Ursache sind nicht die Attribute. Vielmehr werden ARIA-Attribute vor allem bei sehr komplexen Seiten und Inhaltselementen eingesetzt. Für einfache Seiten machen sie schlicht keinen Sinn. Und je komplexer die Seite und das Element, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass dabei Fehler passieren.
Also: Halten Sie ihre Seiten schlicht und verwenden Sie ARIA-Attribute nur dort, wo sie Sinn machen. Dann aber richtig. So werden Sie die Barrierefreiheit Ihrer Website in jedem Fall verbessern.
Schreiben Sie besonders ausführliche Labels für Screenreader
Apropos ARIA. Das Attribut aria-label fügt bekanntermaßen eine Beschriftung zu Elementen hinzu, die der Screenreader dann auslesen kann. Es ist hilfreich für Hörer, dabei so ausführlich wie möglich zu sein. Geben Sie so viele Informationen über die Bedeutung und die Anwendung der Elemente, wie möglich.
Spaß beiseite. Die Beschriftung eines gewöhnlichen Hauptmenüs mit „Das ist das Hauptmenü. Sie können es nutzen um auf der Seite zu navigieren. Klicken Sie dazu auf die Links.“ schießt deutlich über das Ziel hinaus. Bedenken Sie: Nutzer von Screenreadern müssen sich das alles anhören, einige Texte kann man nicht einmal abbrechen. Und sie tun das nicht das erste Mal. Im Jahr 2024 weiß jeder, wofür eine Navigation da ist. Eine simple Beschriftung mit „Menü“ tut es also völlig. Oder nutzen Sie das für Navigationen vorgesehene Element <nav>, dann können Screenreader auch ohne zusätzliches Label erkennen, dass es sich um eine der Hauptnavigationen handelt.
Bieten Sie eine barrierefreie Alternative an
Falls diese großartigen Tipps und der gesamte stolperfreie Blog nicht helfen, bietet die WCAG Ihnen zum Glück noch eine Hintertür: die Alternativversion. So heißt es:
Für eine Konformität auf Stufe A (die minimale Konformitätsstufe) muss die Webseite alle Erfolgskriterien der Stufe A erfüllen oder es wird eine konforme Alternativversion zur Verfügung gestellt.
Ist das nicht beruhigend? Wenn Sie die Kriterien also nicht erfüllen können, wenn Sie eine wild blinkende, Schlaganfälle auslösende Seite in oranger Schrift auf pinkem Hintergrund nicht ablösen wollen, dann müssen Sie das auch nicht. Bieten Sie einen roten, kaum sichtbaren, Button zur Alternativversion an.
Aber Vorsicht: Die barrierefreie Alternativversion muss dieselben Informationen enthalten wie die nicht-barrierefreie Hauptseite. Sie haben sich hier also einen digitalen Laubbläser geschaffen: Die Probleme werden nicht gelöst, sondern nur in eine andere Ecke verschoben.
Wieso also nicht gleich die Hauptseite barrierefrei machen, wenn man ohnehin eine barrierefreie Website mit denselben Inhalten benötigt? Streichen Sie die Idee mit der Alternativversion und konzentrieren Sie Ihre Mühen und Ihr Budget lieber auf ein Projekt.
Fazit – Barrierefreiheit besteht nicht aus Zahlen und Kriterien, sondern Menschen
Überlegen Sie sich, weshalb Sie Ihre Website barrierefrei umsetzen wollen. Um ein paar Kriterien zu erfüllen und irgendwo eine tolle Punktzahl zu ergattern? Oder um Menschen wirklich zu helfen? Wenn Sie sich für letzteres Entscheiden, dann ignorieren Sie die vielen Lücken, die man ausnützen könnte, und lösen Sie die Probleme wirklich. Laubbläser haben wir schon genug. Und nehmen Sie diesen Artikel als eine humorvolle Erinnerung daran, dass auch Barrierefreiheit Spaß machen kann.
Diesen Artikel habe ich mir ausnahmsweise geliehen. Er ist so ähnlich auf Englisch bei 24 Accessibility erschienen und wurde im Original vom großartigen Erik Kroes verfasst.