Der deutsche Notruf ist eine Institution. Seit 1973 ist die 112 die zentrale Nummer für Feuerwehr und Rettungsdienst – also über 50 Jahre! Die Polizei ist über die 110 sogar schon seit 1956 erreichbar. Zwei Zahlen, die Leben retten. Zwei Zahlen, die fast jedes Kind kennt. Und zwei Zahlen, die eigentlich für alle da sein sollten.
Doch selbst im Jahr 2025, am Europäischen Tag des Notrufs, mussten Verbände wie der Deutsche Gehörlosenbund noch daran erinnern: Für viele Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderungen ist der Zugang zur Notrufnummer noch immer nicht barrierefrei.
Was also tun, wenn man in Gefahr ist – aber nicht sprechen oder hören kann? Welche technischen Alternativen gibt es? Und wie steht es eigentlich um die gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit? Klären wir doch einmal, wie viel Barrierefreiheit wirklich im deutschen Notruf steckt und was sich dringend ändern muss.
Was der Notruf laut Gesetz leisten muss
Barrierefreiheit im Notruf ist kein Nice-to-Have, sondern lebensrettend. Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 dazu bekannt, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Leistungen zu garantieren – und das schließt Notrufe ausdrücklich mit ein. Die EU-Richtlinie 2019/882, besser bekannt als der European Accessibility Act, macht es konkret: Notrufsysteme müssen bis spätestens Juni 2025 für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein – auch für Personen, die nicht hören, sprechen oder komplexe Sprache verstehen können. Das Datum kommt Ihnen bekannt vor? Richtig, das ist genau die Richtlinie, auf der auch das BFSG beruht und die Betreiber von Websites und Anbieter diverser Produkte zur Barrierefreiheit verpflichtet.
Dabei geht es nicht nur darum, einen Notruf auf mehreren Wegen absetzen zu können – etwa per Sprache, Text oder Gebärdenvideo. Es geht auch um Verlässlichkeit. Alternative Zugänge müssen ohne Hürden erreichbar sein, intuitiv funktionieren, rund um die Uhr bereitstehen und vor allem genauso schnell Hilfe bringen wie ein klassischer Sprachanruf. Dabei müssen die angebotenen Methoden so vielfältig sein wie die Bedürfnisse der Nutzer. Ein Chatfenster hilft wenig, wenn sich jemand besser mit Gebärdensprache ausdrücken kann.
Umsetzung in Deutschland
Im Gegenteil zu den meisten anderen Regeln wird die Barrierefreiheit des Notrufs nicht mit im BFSG erfasst, sondern ist Teil des Telekommunikationsgesetztes (TKG). Dort steht in § 164 Abs 3:
Zur Gewährleistung einer gleichwertigen Notrufkommunikation von Menschen mit Behinderungen ist sicherzustellen, dass bei Nutzung eines Vermittlungsdienstes nach § 51 Absatz 4 unentgeltliche Notrufverbindungen möglich sind.
Der Plan steht also. Klar ist aber auch: bis zum 28. Juni 2025 müsste diese Vorgabe nicht nur gesetzlich festgelegt, sondern natürlich auch praktisch umgesetzt sein. Die praktische Bereitstellung des Notrufs, also der Betrieb der Leitstellen, die personelle Ausstattung und die Schulung des Personals, liegt aber in der Verantwortung der Länder bzw. deren Kommunen. Und da wird klar: wie barrierefrei eine Notrufleitstelle tatsächlich arbeitet, hängt stark vom jeweiligen Bundesland oder Landkreis ab. Das ist am Ende aber nicht bloß eine juristische Detailfrage. Sie entscheidet darüber, ob ein Mensch im Ernstfall gehört wird oder nicht. Ob er überlebt oder nicht.
Technische Alternativen für gehörlose, schwerhörige und stumme Personen
Was also tun, wenn die altbekannten Nummern nicht genutzt werden können, weil Telefonieren nicht geht? Nun, es gibt Alternativen. Schauen wir uns mal einige davon im Vergleich an.
Nora-App – die offizielle Notruf-App
Die Nora-App ist der Versuch des deutschen Staates, den Notruf barrierefrei zu machen – zumindest technisch. Entwickelt im Auftrag der Bundesländer, ermöglicht sie den stillen Notruf via Smartphone. Der Standort wird automatisch übermittelt, man kommuniziert über einfach verständliche Fragen (Multiple-Choice).
- Anbieter
- Staatlich (Bundesländer)
- Verbreitung
- mittel – rund 500.000 Downloads, aber kaum bekannt in der breiten Bevölkerung
- Vorteile
-
- offiziell, kostenlos, datensparsam
- Notruf bei Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst
- Standortübermittlung + einfache Bedienung
- Nachteile
-
- läuft nur auf Android/iOS – keine Browser- oder Desktopversion
- nicht durchgängig barrierefrei (z. B. kognitive Zugänglichkeit, UX-Probleme)
- derzeit in Bayern nicht verfügbar
Tess – Relay-Dienste mit Übersetzung
Tess ist ein privater, aber staatlich geförderter Dienst, der Dolmetscher und Dolmetscherinnen für Telefonate bereitstellt – per Gebärdensprache oder Schrift. Für Notrufe bedeutet das: Personen in Not wählen Tess, die Dolmetscher und Dolmetscherinnen rufen die Notrufnummer an.
- Anbieter
- privat, aber finanziell gefördert vom Bund (über GKV/Telekom etc.)
- Verbreitung
- gering – bekannt in der Gehörlosengemeinschaft, sonst kaum
- Vorteile
-
- professionelle Dolmetscher und Dolmetscherinnen für echte Gespräche
- funktioniert für medizinische Notrufe wie auch allgemeine Kommunikation
- Nachteile
-
- keine direkte Notrufverbindung – Umweg über Dritte
- nicht rund um die Uhr verfügbar
- technische Hürden bei Anmeldung & Nutzung (z. B. Software notwendig)
Total Conversation – Video, Text & Sprache gleichzeitig
Total Conversation ist kein Dienst, sondern ein technischer Standard: Videotelefonie mit synchroner Textübertragung und Sprache – barrierearm für viele. Inzwischen unterstützen einige Notrufleitstellen in Deutschland diesen Standard, z. B. über SIP-Adressen oder Webportale.
- Anbieter
- öffentlich und privat
- Verbreitung
- sehr gering – Pilotprojekte, noch keine flächendeckende Infrastruktur
- Vorteile
-
- barrierefreie Kommunikation in Echtzeit
- ideal für Gebärdensprache, Schrift & Sprache kombiniert
- Nachteile
-
- hohe technische Anforderungen (SIP-fähige Geräte, stabile Verbindung)
- keine einheitliche Umsetzung in Deutschland
- kaum bekannt
Automatische Notrufe – wenn Technik von selbst alarmiert
Manchmal kann man den Notruf gar nicht selbst auslösen – etwa bei einem Sturz in der Wohnung oder einem Unfall auf der Straße. Das betrifft natürlich auch und vielleicht besonders oft Menschen, die ohnehin schon motorische Einschränkungen haben. Genau hier setzen automatische Notrufsysteme an. Sie überwachen bestimmte Situationen und lösen selbstständig einen Notruf aus, wenn Gefahr erkannt wird. Kein Telefon, keine App, kein Tippen.
Wichtig ist aber: Sie ersetzen keine barrierefreie Kommunikation, sondern müssen als Teil eines inklusiven Notrufs funktionieren.
Schauen wir uns ein paar Beispiele an.
eCall – der Notruf aus dem Auto
Seit 2018 ist das automatische Notrufsystem eCall in allen neuen EU-Autos Pflicht. Es erkennt Unfälle (z. B. durch Airbag-Auslösung), baut eine Verbindung zur 112 auf und überträgt automatisch Standort, Fahrtrichtung und Fahrzeugdaten an die Leitstelle.
- Anbieter
- gesetzlich verpflichtend (Herstellerintegriert)
- Verbreitung
- hoch – in allen neuen Fahrzeugmodellen
- Vorteile
-
- automatische Auslösung bei schwerem Unfall
- Sprachverbindung zur Leitstelle + Standortdaten
- funktioniert EU-weit
- Nachteile
-
- funktioniert nur im Auto
- keine individualisierte medizinische Info
- keine barrierefreie Oberfläche – Sprache meist nötig
Sturzerkennung auf Smartwatches & Smartphones
Apple, Samsung, Google & Co. statten ihre Geräte zunehmend mit Sensoren zur Sturzerkennung aus. Wird ein schwerer Sturz erkannt und reagiert die Person nicht, wird automatisch ein Notruf gewählt – inkl. Standortübermittlung und Benachrichtigung von Notfallkontakten.
- Anbieter
- privat (Apple Watch, Samsung Galaxy Watch, Google Pixel etc.)
- Verbreitung
- wächst, aber eher bei technikaffinen Nutzer:innen
- Vorteile
-
- funktioniert auch allein zu Hause oder unterwegs
- persönliche Notfallkontakte + Standortdaten
- Nachteile
-
- teuer (nur in High-End-Geräten)
- Fehlalarme möglich (z. B. bei Sport)
- oft auf Sprache angewiesen (für Rückfragen)
Hausnotrufsysteme – klassisch, aber oft lebensrettend
Anbieter wie das DRK oder Malteser bieten klassische Hausnotrufsysteme an: tragbare Sender mit Notfalltaste, teilweise mit Sturzerkennung. Diese Dienste verbinden sich mit einer Hausnotrufzentrale, die im Notfall Angehörige oder den Rettungsdienst informiert.
- Anbieter
- privat, oft gemeinnützig (DRK, Johanniter, Malteser etc.)
- Verbreitung
- vor allem bei älteren Menschen
- Vorteile
-
- einfache Bedienung, oft mit Sprechverbindung
- optional automatische Auslösung bei Sturz
- schnelle Reaktion durch Notrufzentrale
- Nachteile
-
- monatliche Kosten (ab ca. 25 €)
- meist auf Zuhause begrenzt
- barrierefrei, aber oft veraltet in der Technik
Neurodivergenz – wenn Kommunikation anders funktioniert
Stellen Sie sich vor, Sie wollen Hilfe holen, aber Ihr Gehirn schaltet auf Alarm. Wörter rutschen ihnen weg. Gedanken springen. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt – aber Sie können es nicht sagen.
Herausforderungen für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen
Der Notruf ist auf schnelle, zielgerichtete Kommunikation ausgelegt: Wer ruft an? Wo ist der Notfall? Was ist passiert? Die Realität sieht für neurodivergente Menschen oft anders aus. Dazu zählen Personen mit Autismus, ADHS, psychosozialen Behinderungen oder kognitiven Einschränkungen. Für sie kann der Notruf zur zusätzlichen Hürde werden.
Typische Herausforderungen können sein:
- Sprachverarbeitung: In Stresssituationen kann Sprache schwer zugänglich sein – sowohl das Verstehen als auch das Formulieren von Antworten.
- Reizüberflutung: Sirenen, Stimmen, blinkende Anzeigen – all das kann bei Menschen im Autismus-Spektrum zur Überforderung führen.
- Panikreaktionen: Eine psychische Krise kann dazu führen, dass Betroffene sich nicht mehr selbst mitteilen können oder aus Angst auflegen.
- Verlust von Routinen: Notrufe sind Ausnahmesituationen – und genau das ist für viele neurodivergente Menschen besonders schwierig.
- Missverständnisse: Manche Symptome – wie monotone Sprache, ausbleibender Blickkontakt oder ungewöhnliche Wortwahl – werden fälschlich als „seltsam“, „uneinsichtig“ oder gar „nicht kooperativ“ wahrgenommen.
Das Problem liegt nicht bei den Betroffenen, sondern im System, das kaum vorbereitet ist auf andere Formen der Kommunikation. Doch hier lässt sich ansetzen. Mit Training.
Training und Sensibilisierung der Leitstellen
Leitstellen sind das Nadelöhr des Notrufs. Wer dort arbeitet, entscheidet in Sekunden, was passiert – und wie. Umso wichtiger ist, dass die Mitarbeitenden auch für neurodivergente Kommunikationsweisen sensibilisiert sind.
Einige wichtige Aspekte:
- Schulung in inklusiver Gesprächsführung: Fragen klar und einfach stellen, Pausen zulassen, nicht drängen – das kann Leben retten.
- Anerkennung nonverbaler Hinweise: Wenn jemand schweigt oder wirr spricht, liegt das vielleicht nicht an Uneinsichtigkeit, sondern an Überforderung.
- Vermeidung von Eskalation: Neurodivergentes Verhalten wird oft fehlgedeutet – etwa als aggressiv oder manipulativ. Schulungen helfen, deeskalierend zu handeln.
- Nutzung von Unterstützungsstrukturen: Manche Menschen haben Notfallausweise, Apps oder betreuende Stellen, die kontaktiert werden können – wenn das System sie kennt.
Einige Leitstellen in Deutschland haben mit solchen Schulungen begonnen, oft auf Initiative einzelner Verbände oder lokaler Projekte. Eine bundesweite, verpflichtende Qualifikation zum Umgang mit neurodivergenten Notrufen? Fehlanzeige.
Auch Websites können für neurodivergente Menschen optimiert werden. Mehr dazu in folgenden Artikeln:
- Mit Autismus im Internet – Digitale Barrierefreiheit für neurodivergente Menschen
- Konzentration auf Websites fördern bei ADHS-Symptomen
Ein Blick über die Grenzen
Ein barrierefreier Notruf ist natürlich auch international Thema. Einige Länder haben in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht.
In Großbritannien bietet das Text Relay-System „EmergencySMS“ eine einfache Möglichkeit, per SMS mit der Notrufzentrale in Kontakt zu treten. Der Dienst funktioniert ohne App, ist landesweit verfügbar und wurde speziell für Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderungen entwickelt. Voraussetzung ist eine einmalige Registrierung – danach genügt eine kurze Nachricht mit Ort und Notfallart.
Schweden geht mit seinem System „112 SOS Alarm“ noch einen Schritt weiter. Die offizielle App ist vollständig barrierefrei gestaltet und bietet unter anderem die Möglichkeit, Notrufe per Text, Symbolen oder GPS-gestütztem Standort abzusetzen. Zudem sind dort medizinische Informationen hinterlegbar – ein entscheidender Vorteil in Situationen, in denen Betroffene selbst nicht mehr kommunizieren können.
In den USA wird unter dem Schlagwort „Text-to-911“ an einer landesweiten Infrastruktur gearbeitet, die es erlaubt, Notrufe per SMS direkt an die Leitstellen zu senden. Noch ist der Dienst nicht flächendeckend aktiv, doch in vielen Bundesstaaten ist er bereits verfügbar. Zudem arbeiten manche Regionen mit Video-Relay-Services, über die Gehörlose in Gebärdensprache mit Dolmetschunterstützung den Notruf absetzen können. Ob unter einer Trump-Regierung hier Fortschritte erzielt werden, bleibt aber fraglich.
Fazit – Barrierefreiheit im Notruf zwischen Anspruch, Realität und Hoffnung
Barrierefreie Notrufe sind möglich – aber sie sind (noch) keine Selbstverständlichkeit. Statt eines nahtlosen Systems gibt es ein Patchwork aus Apps, Standards und Vermittlungsdiensten. Für viele Menschen in Not heißt das: erst googeln, dann Hilfe holen. Und das kostet Zeit – die im Notfall nicht da ist.
Barrierefreiheit im Notruf ist kein Nischenthema. Es geht um Sekunden, in denen Leben gerettet werden können – oder eben nicht. Das Recht auf einen barrierefreien Zugang zum Notruf ist gesetzlich verankert, international anerkannt und technisch längst möglich. Trotzdem bleibt die Realität in Deutschland dürftig. Statt eines nahtlosen Systems gibt es ein Patchwork aus Apps, Standards und Vermittlungsdiensten. Für viele Menschen in Not heißt das: erst googeln, dann Hilfe holen. Und das kostet Zeit – die im Notfall nicht da ist.
Ein Blick ins Ausland zeigt: Es geht auch anders. Deutschland hat in einigen Bereichen aufgeholt, bleibt aber insgesamt hinter seinen Möglichkeiten zurück. Technisch ist vieles da – strukturell und kulturell fehlt es aber an einer klaren Linie.
Barrierefreiheit im Notruf ist kein Projekt, das sich mit einer App erledigen lässt. Sie ist eine Frage von Haltung, Organisation und Kommunikation. Damit die 112 tatsächlich für alle gilt – ohne Umwege, ohne Erklärungsnot, ohne Stolpersteine.