Barrierefreiheit Ihrer Website – bald Pflicht der Entwickler?

4.9.2024
Absurde Illustration: Handschellen. Der Vordere Ring ist ein teich, in dem eine Ente schwimmt. Der hintere Teil ein Käselaib, in dem eine große Ecke fehlt.

Aktuell haften die Betreiber einer Website bei Verstößen gegen geltendes Recht. Doch was passiert, wenn Entwickler für die Barrierefreiheit haften?

Inhaltsverzeichnis

Wagen wir heute ein Gedankenexperiment. Eines, dass in Kalifornien demnächst vielen Entwicklern drohen könnte. Denn mit dem Gesetz AB-1757 soll (nach meinem Wissen) das erste Mal eingeführt werden, dass nicht nur die Betreiber einer Website haftbar sind für die Barrierefreiheit einer Website. Zukünftig soll diese zur Pflicht für die Entwickler, Agenturen und alle anderen Vertragspartner, die an der Entstehung der Seite beteiligt sind, werden. Lassen wir uns auf diese Idee einmal ein: was könnte sich verändern? Würde es die Art und Weise ändern, wie Agenturen mit dem Thema umgehen?

Wer ist aktuell für Barrierefreiheit verantwortlich?

In den USA und in Europa gilt aktuell: verantwortlich für die Website ist allein der Betreiber. Das ist in den allermeisten Fällen die Person oder Firma, für die eine Website wirbt oder deren Inhalte sie wiedergibt. Diese steht auch im Impressum. Die Entwickler sind Dienstleister, die die Website programmieren und sicherstellen, dass sie stabil und sicher weiter funktioniert. Sie setzen um, womit sie betraut wurden, sind aber nicht verantwortlich für deren Gesetzestreue.

Ab 2025 gilt dank dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Deutschland eine grundsätzliche Pflicht zur Barrierefreiheit vieler Websites. Verantwortlich dafür bleibt allerdings nach wie vor der Betreiber. Entwickler und Agenturen haben keine Konsequenzen zu befürchten.

In seltenen Ausnahmen könnten Entwickler aber auch jetzt schon haftbar gemacht werden. Das ist immer dann der Fall, wenn im Vertrag zwischen Betreiber und der Agentur oder dem Entwickler Dinge garantiert wurden, die nicht eingehalten worden sind. Steht im Vertrag also etwas von einer WCAG-AA-Kompatibilität, dann muss diese auch gewährleistet werden.

Auf welche Websites das BFSG zutrifft und welche Pflichten sich daraus ergeben, habe ich bereits gemeinsam mit einer Fachanwältin für IT-Recht verbloggt. Zum Artikel über das BFSG auf versandhandelsrecht.de.

Entwicklung einer barrierefreien Website für die alle haften

Doch was passiert nun, wenn Entwickler für die Projekte zukünftig direkt haften, die sie programmieren? Welche Auswirkungen hat das auf die Entwicklung neuer Websites?

Die Anfänge – es wird teurer

Aktuell sieht das Gesetz keine Übergangsfrist vor. Es ist aber kein Geheimnis, dass Barrierefreiheit in vielen Agenturen und vor allem bei Solo-Selbstständigen als Thema nicht ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Das heißt, dass Designer, Entwickler, Redakteure und alle anderen Personen in den Agenturen sich sehr schnell das nötige Wissen aneignen müssen. Entsprechende Schulungen könnten zu einem völlig überteuerten Preis angeboten werden.

Auch die Entwickler selbst werden ihre Preise anpassen müssen. Das höhere Risiko wird vor allem von umfangreicheren Haftpflichtversicherungen abgefangen werden. Die Kosten dafür werden vermutlich an die Kunden weitergegeben. Wird die Barrierefreiheit einer Website also auch für die Entwickler zur Pflicht, dann werden Websites allgemein teurer.

Der Markt passt sich an – Barrierefreiheit bei den Zulieferern

Entwickler können nur barrierefreie Websites anbieten, wenn die Tools, die sie einsetzen, das auch erlauben. Also müssen die Anbieter von CMS, Plugins und Frameworks nachziehen. Schließlich werden sich die Entwickler für die besten Tools entscheiden um Arbeit zu sparen. Passen sich die Anbieter daran nicht an, werden sie nach und nach vom Markt verschwinden.

Auch wenn das hart klingt, ist es ein wichtiger Schritt. Denn aktuell scheitert eine kostengünstige Umsetzung einer barrierefreien Website oft daran, dass ein schon vom Kunden festgelegtes System die Voraussetzungen gar nicht bietet. Dann müssen umfangreiche Anpassungen vorgenommen werden um überhaupt barrierefreie Inhalte pflegen zu können oder die Navigation mit der Tastatur bedienen zu können.

Das Ende der Accessibility Overlays?

Sogenannte Accessibility-Overlays versprechen oft kostengünstige Barrierefreiheit für praktisch jede Website. Dass sie das nicht halten habe ich bereits im Artikel Accessibility Overlays und die Mär der automatischen Barrierefreiheit verbloggt. Toolbars mit bestimmten Funktion, um eine Website an die eigenen Bedürfnisse anzupassen, können eine Ergänzung sein. Grundlage ist aber immer eine sauber umgesetzte barrierefreie Website. Und die lässt sich nicht nachträglich durch ein Overlay erreichen.

Was, wenn nun auch die Anbieter dieser Dienste haftbar dafür wären, dass die Websites anschließend tatsächlich gesetzeskonform barrierefrei sind? Erste Klagen dazu gibt es bereits. Denn das können sie, Stand heute, überhaupt nicht garantieren. Aktuell sind nur etwa 60% der WCAG-Prüfkriterien überhaupt maschinell überprüfbar. Und was als Fehler nicht erkannt wird, kann auch nicht behoben werden.

Es gibt also nur 2 Varianten:

  • Sie werden, auch KI-gestützt, so gut, dass sie tatsächlich halten können, was sie versprechen
  • Sie werden vom Markt verschwinden.

Und was passiert mit der Barrierefreiheit nach der Freischaltung?

Gehen wir in unserem Gedankenexperiment weiter. Wir haben eine barrierefreie Website entwickelt. Die Redakteure sind geschult, die Tests alle bestanden. Wir haben in einigen Kriterien sogar die Mindestanforderung übertroffen, denn Barrierefreiheit war im Projekt ein wichtiges Thema. Danke, setzen, Eins mit Sternchen.

Und dann vergeht Zeit. Neue Redakteure kommen hinzu, alte gehen. Prioritäten ändern sich und die Barrierefreiheit lässt nach. Was anfangs Pflicht für alle beteiligten war wird zum notwendigen Übel und irgendwann ganz vernachlässigt. Alternativtexte werden nur noch missmutig gepflegt, Überschriften für Hervorhebungen missbraucht. Die Entwickler und Agenturen können dem Verfall der Barrierefreiheit zwar mit kontinuierlichen Schulungen begegnen, sie haben aber meist keine Kontrolle über die komplette inhaltliche Pflege.

Werden Entwickler in Zukunft gezwungen sein, sich gegen Klagen von Nutzern der Website (oder ihren eigenen Kunden) zu verteidigen, obwohl sie keine Kontrolle über das haben, was passiert? Es bleibt zu hoffen, dass Entwickler nur für technische Probleme haften, die sie auch verursacht haben. Trotzdem werden sich die Gerichte mit sehr vielen Klagen befassen müssen.

Noch ist unklar, wie AB-1757 diese Frage beantworten wird. Doch für Agenturen, die eine Vielzahl an Kunden betreuen, wird es einer der wichtigsten Punkte sein.

Fazit – Haftbarkeit schafft Verbindlichkeit, aber auch Angst

Die Intention des Gesetzes ist sicherlich eine gute. Je mehr Personen für die Barrierefreiheit einer Website verantwortlich sind, desto mehr werden dieses Thema beachten. Barrierefreie Websites werden so zur Priorität Nr. 1 für alle Parteien. Betroffene dürften von deutlich mehr Teilhabe profitieren.

Gleichzeitig befürchten große Agenturen aber eine Flut von Klagen, insbesondere weil es keine Übergangsfirst geben soll. Außerdem bleiben viele Fragen bisher unbeantwortet. Was ist mit Websites, die schon auf dem Markt sind? Was passiert, wenn ein Kunde diese Website später „kaputtwirtschaftet“? Wer muss Schuld oder Unschuld beweisen, die Betreiber oder die Entwickler?

Ich bin gespannt, ob es eine solche Regelung irgendwann auch in Europa geben wird. Bis dahin gilt, dass die Betreiber verantwortlich sind. Wir als Entwickler und Agenturen sollten aber ausführlich über das Thema Barrierefreiheit beraten und als die Fachpersonen auftreten, die wir ansonsten auch gern für Technik und Marketing sind.