Mit Autismus im Internet – Digitale Barrierefreiheit für neurodivergente Menschen

28.8.2024
Absurde Illustration: Ein Junge mit überproportional großem Kopf. Er trägt große Kopfhörer, hält sich aber zusätzlich die Ohren zu. Im Hintergrund ist Feuerwerk zu sehen. Der Junge sieht traurig aus.

Das Autismus-Spektrum ist vielfältig und so sind die Barrieren, vor denen Menschen mit Autismus im Internet stehen. Welche Lösungen gibt es?

Inhaltsverzeichnis

Nicht jede Behinderung ist sichtbar. Viele Herausforderungen bleiben unsichtbar oder können von Betroffenen nur mühsam kaschiert werden. So erleben es oft Menschen auf dem Autismus-Spektrum, bei denen eine Reizüberflutung oder Überforderung häufig erst in den eigenen vier Wänden zu einem sogenannten Meltdown führen kann. Obwohl soziale Interaktionen im Internet deshalb oft angenehmer sind, können auch Websites für neurodivergente Menschen problematisch sein.

In der digitalen Barrierefreiheit werden ihre Bedürfnisse jedoch häufig vernachlässigt, da der Fokus der WCAG-Richtlinien vor allem auf Einschränkungen des Sehens, Hörens und der Motorik liegt. Heute werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie Websites auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) reagieren können.

Was ist eigentlich Autismus?

Autismus ist eine neurologische Entwicklungsbesonderheit. Das heißt, das Gehirn arbeitet anders. Es handelt sich um ein Spektrum, die Auswirkungen können also sehr unterschiedlich ausfallen. Einige Menschen auf dem Autismus-Spektrum haben Schwierigkeiten, soziale Interaktionen zu verstehen, während andere damit gut zurechtkommen. Das Spektrum reicht von leichten bis hin zu schwereren Formen, bei denen intensive Unterstützung notwendig ist. Die Besonderheiten zeigen sich meist in verschiedenen Lebensbereichen. Schauen wir sie uns einzeln an.

Soziale Interaktionen

Vielen Menschen mit Autismus fällt es schwer, soziale und emotionale Signale einzuschätzen oder diese selbst auszusenden. Das kann dazu führen, dass ihre Reaktionen auf die Gefühle anderer als unangemessen wahrgenommen werden. Auch sprachliche Einschränkungen können hinzukommen. Fällt das Verstehen oder Sprechen schwer, führt das zu weiteren Problemen in der Interaktion mit anderen Menschen.

Verhaltensweisen

Menschen mit Autismus zeigen oft sich wiederholende Verhaltensmuster und bevorzugen routinierte Abläufe. Änderungen in diesen Abläufen können schnell zu Überforderung führen.

Wahrnehmung und Reizverarbeitung

Ein entscheidendes Merkmal vieler neurodivergenter Menschen, insbesondere solcher auf dem Autismus-Spektrum, ist die besondere Wahrnehmung. Während das Gehirn neurotypischer Menschen viele sensorische Informationen unbewusst herausfiltert, fehlt dieser Filter bei Menschen auf dem Autismus-Spektrum oft oder muss bewusst aktiviert werden. Unübersichtliche und unbekannte Situationen können deshalb schnell zu einer Überflutung der Sinne führen.

Herausforderungen bei der Optimierung von Websites

Die Anforderungen an barrierefreie Websites sind international in verschiedenen Standards wie den WCAG und der EN 301 549 festgelegt. Diese enthalten jedoch kaum Kriterien, die speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus abzielen. Die Barrieren, die sie erleben, unterscheiden sich erheblich von denen blinder oder gehörloser Menschen. Die Maßnahmen zur Überwindung dieser Barrieren müssen deshalb angepasst werden. Außerdem ist das Autismus-Spektrum so vielfältig, dass es schwierig ist, allgemeingültige Kriterien festzulegen.

Autismus im Internet und mögliche Lösungen

Für viele Menschen auf dem Autismus-Spektrum ist das Internet ein bevorzugtes Mittel, um alltägliche Aufgaben zu erledigen. Es ermöglicht ihnen, zwischenmenschlichen Situationen zu entgehen, die schnell zu Reizüberflutung oder Überforderung führen können. Durch einige Anpassungen können Websites dazu beitragen, dass das Online-Erlebnis angenehmer und zugänglicher wird.

Reizüberflutung vermeiden

Eine reduzierte und klare Gestaltung ist wichtig. Je schlichter das Layout und je übersichtlicher der Inhalt, desto besser. Besonders Werbung, Animationen, automatisch startende Videos oder unerwartete Töne können schnell zur Reizüberflutung führen. Hier ein paar Tipps:

  • Entfernen Sie die Auto-Play-Funktion von Videos und Audiodateien. Sie sollten nur auf Wunsch des Nutzers abgespielt werden.
  • Verwenden Sie höchstens zwei verschiedene Schriftarten.
  • Verzichten Sie auf Werbung und unnötige Animationen. Bewegungen sollten nur eingesetzt werden, wenn sie helfen.
  • Halten Sie die Struktur der Website klar und konsistent, und vermeiden Sie wechselnde Textblöcke oder übermäßige Informationen auf einmal.

Denken Sie daran, dass unwichtige Elemente von Menschen mit ASS vielleicht nicht einfach „überlesen“ werden können. Reduzieren Sie deshalb auf die wichtigen Dinge und konzentrieren Sie sich auf den Inhalt. Davon profitieren auch neurotypische Menschen.

Mehr zum Thema Animationen finden Sie im Artikel Barrierefreie Animationen – wann Bewegung hilft und wann sie schadet.

Klare Kommunikation und Sprache

Menschen auf dem Autismus-Spektrum haben oft Schwierigkeiten, Metaphern, Ironie oder Sarkasmus zu verstehen. Bleiben Sie deshalb am Besten klar und deutlich. Kurze Sätze erleichtern das Lesen zusätzlich. So helfen Sie nicht nur Menschen mit ASS, sondern auch solchen mit intellektuellen Einschränkungen oder geringen Deutschkenntnissen.

Mehr Informationen zum Thema Leichte und Einfache Sprache gibt es in folgenden Artikeln:

Einfache und konsistente Navigation

Eine intuitive und konsistente Navigation ist für alle Nutzer wichtig, besonders aber für Menschen auf dem Autismus-Spektrum. Bieten Sie deshalb eine übersichtliche Hauptnavigation. Achten Sie dabei unbedingt darauf, dass sich die Elemente immer an derselben Stelle befinden um so Routinen in der Bedienung zu schaffen. Diese enthalten jedoch kaum Kriterien, die speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus abzielen.

Menüs sind kein geeigneter Ort für Designexperimente und sollten schlicht und vorhersehbar sein. Wenn Sie sehr viele Inhaltsseiten haben, überlegen Sie sich, welche davon unbedingt über die Hauptnavigation erreichbar sein müssen. Ein reduziertes Menü der wichtigsten Seiten ist oft für alle Nutzer hilfreicher als eines, das alle Verlinkungen zeigt. Der Trend geht leider zum sogenannten „Megamenü“, das oft so komplex ist, dass es am Ende nicht verwendet wird.

Neben der Navigation sollten Sie insbesondere bei vielen Inhaltsseiten stets verfügbare Suchfunktion bereitstellen. So können Nutzer zielgerichtet finden, wonach sie suchen ohne das Menü verstehen zu müssen.

Alternative Kommunikationsmöglichkeiten

Websites können eine wichtige Rolle dabei spielen, Menschen mit Autismus in ihrer Kommunikation zu unterstützen. Dabei ist es wichtig, vor allem die Möglichkeiten anzubieten, die ohne fremde Hilfe oder aber zeitversetzt genutzt werden können. Eine direkte Konversation baut oft zusätzlichen Druck auf. Bieten Sie anstelle von Telefonhotlines deshalb auch individuelle Hilfsangebote an, wie FAQ-Seiten, gut strukturierte Hilfebereiche, E-Mail-Adressen oder Chatbots. Diese bieten schriftliche Alternativen, die oft bevorzugt werden.

Mit Autismus im Internet – Fazit

Werde ich als Fachfrau gefragt, was eigentlich digitale Barrierefreiheit ist, dann erkläre ich das oft mit Menschen, die eine starke Sehschwäche haben. Das können sich Menschen ohne Einschränkungen sehr gut vorstellen und es lässt sich auch einfach selbst ausprobieren. Die Augen sind schnell verbunden, der Screenreader aktiviert. Es gibt aber viele Einschränkungen, in die man sich als nicht betroffener Mensch nur schlecht hineinversetzen kann. Das Autismus-Spektrum ist eine davon. Wie kann man sich vorstellen, plötzlich alles ungefiltert wahrzunehmen? Um so wichtiger ist es, dass wir mit Betroffenen und Fachleuten sprechen und uns die Hürden beschreiben lassen, mit denen sie jeden Tag konfrontiert sind.

Das habe ich gemacht und diesen Artikel gemeinsam mit der tollen Kathy Magiera geschrieben, die sich intensiv mit dem Autismus-Spektrum auseinandergesetzt hat.